Das Startbahn-Format geht in die nächste Runde.

Bereits zum fünften Mal zeigt sich der kreative Reichtum des aus vielen künstlerischen Einzelstimmen bestehenden Ensembles des Hessischen Staatsballetts auch in dieser Spielzeit.

In ästhetischer und konzeptioneller Bandbreite präsentieren die Tänzer:innen ihre Kurzchoreografien in den Kammerspielen. Dabei werden eigene Konzepte ausprobiert, persönliche Tanzstile entwickelt und neue Formen tänzerischen Ausdrucks kultiviert. Für manche der Choreograf:innen sind es die ersten Schritte auf diesem Parkett.

Choreografien: Tänzer:innen des Hessischen Staatsballetts

Uraufführung Teil 1 am 13. Juni 2025, 19:30 Uhr
Uraufführung Teil 2 am 14. Juni 2025, 19:30 Uhr (mit Nachgespräch auf der Bühne)

Ort: Staatstheater Darmstadt, Kammerspiele

Startbahn teilt sich in Teil 1 und Teil 2 auf, die jeweiligen Termine sind hierfür gekennzeichnet.

 

©Tatsuki Takada

Startbahn Teil 1

1 – imperfection

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm, Tanz: Peng Chen
Musik: Gaetano Donizetti, Enrico Caruso

Ich nutze die Grenzen des Bewusstseins,
um das Wachstum des Bewusstseins zu blockieren.
Wir tauschen wilde Wahrheiten
gegen passende Formulierungen,
rohe Emotion
gegen antrainierte Reaktion.

Was fürchte ich mehr – den Schmerz, gesehen zu werden,
oder die Freude, erkannt zu werden?
Dasselbe – so verschieden.

Dauer 10 Min.

2 – through the walls of my heart

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm: Ramon John
Musik: Moses Sumney, serpentwithfeet
Tanz: Ramon John, Masayoshi Katori

© Tatsuki Takada

Als ich so dasaß und die Passanten beobachtete, die eiligen Schrittes am Fenster vorbeirauschten, gekleidet in schicke Anzüge und Zweiteiler, Brieftaschen in ihren Händen und Kopfhörer auf den Ohren, konnte ich nicht umhin als zu bemerken, dass meine Zeitleiste sich veränderte. Verlangsamte. Das Leben selbst rauschte vorbei und ich saß dort. In Stille. Unbewegt. Zufrieden. Im Zentrum dieses wundervoll, hektischen „Lipstick Jungle“, im Land der aufgehenden Sonne, fand ich mich wieder, in meinem kleinen Eden. Ein Eden meiner Schaffung. My room. My womb.
Um 12 Uhr nachmittags, mit einem ungesüßten Zitronen-Eistee und einem Stück Mille Crêpe vor mir, mit kreisenden Gedanken wie „Cranes in the sky“, diesen metallenen Wolken zu entkommen versuchend, bemerkte ich plötzlich eine Verschiebung in mir. Wir bewegten uns. Closer. Wie zwei Teile eines verwobenen, doch geteilten Partikels, an gegenüberliegenden Seiten des Universums, zog meine andere Hälfte an mir, alterierte meinen Zustand. Unseren Zustand, zeitgleich. Bewegung.
So wie ich meine Welt hinter mir lasse, auf stelzenartigen Beinen durch diese Tür stolziere, raus und hinein in diese laute und chaotische Realität, unsere Jetztheit, nur um zu rennen und endlich in dich zu knallen, bleibt die Zeit stehen. Blicke treffen sich, eine Flut an Nostalgie überkommt mich und der Liedtext „like a moth to a flame burned by the fire…“, spielt in meinem Hinterkopf. Verzweifelt greife ich nach meinen Erinnerungen, möchte in der Zeit zurückreisen und genau in diesem Moment verweilen, für immer, und gleichzeitig, ungeduldig nach vorne preschen. Alldieweil bist du da.
Nun sind wir hier, im Zentrum unseres Universums, dein Wesen die Wände meines Herzens durchdringend, und ich kann nicht anders als mich zu fragen: Sind wir die „only lovers left alive“?

Dauer 9 Min.

3 – years of good rain

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm: Anthony Michael Pucci
Musik: Suso Saiz, Sarah Vaughan, Richard Chartier, Andy Stott, Hana Stretton
Tanz: Enzo Boffa, Sayaka Kado

 

Und dennoch ist Platz in dieser Tasse. Du kannst eigentlich nichts verlieren, denn nichts gehörte dir je. Was du in deinen Armen zu halten glaubst, ist ein Geschenk, das du empfangen hast – aber wieder hergeben musst. Lass los, wie das Schmelzwasser, das in die Erde sickert. Der Tag wird schließlich kommen, an dem dich dieses Spiel des Verlangens, das du immer wieder spielst, erschöpfen wird. Erst dann wirst du dich niederlegen und mit zusammengebissenen Zähnen daliegen,
während die ungeordneten Teile lautlos aus der Tiefe zu trommeln beginnen.

4 – BEBI

Choreografie, Konzept, Bühne, Licht, Kostüm, Tanz: Rita Winder
Choreografie und Konzept in Zusammenarbeit mit: Jeremy Curnier, Sayaka Kado
Musik: Sam Amidon, John Fahey, Angelo Favis
Text: Jeremy Curnier
Film: Jan van IJken

Halte deine Geschichte fest
Halte sie fest, bis du weißt, dass sie wahr ist.
Halte sie frisch – wie die neugierige Handfläche eines Kindes,
die sich um die Schnur eines rosa Ballons schließt,
die Augen ganz vertieft in das Rosa,
schwebend
vor dem geschäftigen Hintergrund des Lebens, berührt vom unsichtbaren Hauch der Luft.

Nimm dein Leben in dich auf
Es ist die existenziellere Wahl.
Nimm es auf –
so wie sich mosaikartige Risse im ausgetrockneten Boden
unter einem Platzregen sanft wieder schließen,
durchtränkt von Erfahrung.

Sieh deinen Schmerz
Beobachte ihn in den Handflächen deiner gelebten Hände,
gezeichnet von der Gegenwart der Zeit.
Mit der Zeit
wirst du erkennen, dass er ein Freund ist –
der dir hilft, die Schönheit des Sonnenuntergangshimmels zu begreifen,
wenn du alleine sitzt
auf einer Bank.
Still.

Erkenne jetzt,
dass die Offenbarungen der Gegenwart
mit dem Vergehen der Zeit
zur Naivität deiner Vergangenheit werden.
Die Jugend – übersät mit verletzlicher Gewissheit,
die dich mit der Realität ohrfeigt.
Du gibst allem die Schuld, außer dir selbst –
bis du nur noch dir selbst die Schuld gibst.
Scham wird fruchtbar.
Aber Scham ist meist sinnlos.

Bemerk es.
Bemerk das unaufhörliche Reden deines Geistes,
der in Angst gerät, wenn man ihn unbeachtet lässt –
wie das durchdringende Kreischen eines einsamen Kindes in der Nacht,
das Trost bei genau dem sucht,
von dem es ignoriert wird.

Wiege es.
Streichle die monströsen Dämonen,
denen du dich nicht stellen willst –
gesichtslose Einbildungen,
die Lärm erzeugen, der deine Angst übertönt.
Es ist nur Lärm.

Überwucherte Hecken formen Labyrinthe der Gedanken.
Eingeübte Schritte prägen überlaufene chemains (Pfade).
Und trotzdem gehen wir hinaus
auf die Straßen unserer Stadt
und ziehen Linien zwischen dem Persönlichen und dem Beruflichen –
diese ineffizienten Zäune,
die unter dem Druck eines angenommenen „Ichs“ bluten.

Wie mutig wir sind.

Sieh dein Bild.
Sieh es, wie es ist –
durch beschlagene Spiegel unserer Selbsturteile.
Und reinige es.
Lass dein Spiegelbild sichtbar werden.
Strahle.

Besitze deine Geschichte.
Schmelze sie mit den kräftigen Farben deiner mutigsten Träume,
geführt von den Strichen eines gut gelebten Pinsels
auf einer gut gelebten Leinwand,
gezeichnet von den demütigen Händen
einer wachsenden Mitgefühlskraft.

5 – Un-Follow

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm, Dramaturgie: Alessio Damiani
Musik: Giuseppe Villarosa, Waldemar Martynel
Tanz: Sayaka Kado, Milica Mučibabić, Marcos Novais
Assistenz: Greta Dato

Wir alle befinden uns in einer Art Hülle, die die Gesellschaft um uns legt – bestehend aus Normen, Rollen und Schweigen. In dem Moment, in dem jemand es wagt, eine dieser Schichten abzulegen, richtet sich sofort alle Aufmerksamkeit auf diese Person: Urteile, Neugier, Angst. Es ist, als würden Taschenlampen zu Augen werden, die jeden beleuchten, der sich außerhalb des Erwarteten bewegt.
Einige Menschen wagen diesen Schritt, kosten kurz die Freiheit – und ziehen sich dann wieder zurück in die scheinbare Sicherheit. Andere gehen weiter, getrieben von der Sehnsucht nach Wahrheit. Sie nehmen Schmerz und Isolation in Kauf, opfern manchmal sogar Verbündete, nur um für einen kurzen Augenblick das Gefühl des Fliegens, der Befreiung, zu erleben.
Doch zu welchem Preis? Was sind wir tatsächlich bereit zu opfern für einen flüchtigen Blick auf das, was es bedeuten könnte, wirklich frei zu sein?

Dauer 14 Min.

6 – peasants

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm: Meilyn Kennedy
Musik: The Dare, Cinoes, BrokinPaper, Aloe Blacc
Tanz: Daniela Castro Hechavarría, Jorge Moro Argote, Yamil Ortiz, Marie Ramet, Vanessa Shield, Luke Watson

Niemals kann ich in Frieden tun,
wovon meine Seele besessen ist.
Niemals mache ich es mir bequem.
Ich muss rastlos weiterschreiten.
Andere kennen nur Hochgefühl,
wenn die Dinge ihren friedlichen Lauf nehmen,
frei von Selbstgefälligkeit,
und danken jedes Mal, wenn sie beten.
Ich bin gefangen in endlosem Streit,
endloser Gärung,
endlosem Traum.
Welten, die ich für immer zerstören möchte,
da ich keine Welt erschaffen kann,
wenn sie meine Welt nie bemerken,
die in magischem Wirbel kreist.
Tot und stumm starren sie weg,
mit Verachtung auf unsere Taten.
Wir und all unsere Werke verfallen –
gebeugt unter dem Joch des Schmerzes,
so dass Sehnsucht, Traum und Taten
unerfüllt bleiben.
Deshalb lasst uns alles riskieren,
niemals ruhen, niemals müde werden.
Nicht in trüber, stumpfer Stille,
ohne Handeln oder Verlangen.

Frei nach Karl Marx (1836)

Startbahn Teil 2

1 – Welcome to Dreamland

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm: Mei-Yun Lu
Musik: Maestrale
Tanz und Zusammenarbeit Choreografie: Benjamin Wilson

Was du siehst, ist vielleicht nicht das, was du erwartest. In diesem Raum bewegt sich nicht nur der Körper – auch Licht, Schatten und Stille tanzen. Lass los, was du zu wissen glaubst, und tritt ein in eine Welt, in der Formen sich auflösen und Bedeutung sich verschiebt. Fühle frei. Wandere offen.
Genieße die Reise.

 

2 – CASSILOU

Choreografie: Marcos Novais in Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen
Choreografische Assistenz: Alessio Pirrone
Musik: Yu Jing Shi
Bühne, Licht, Dramaturgie: Marcos Novais
Kostüme: Greta Dato
Tanz: Marie Ramet und Enzo Boffa

In CASSILOU verschwimmen zwei Wesen zwischen Selbst und Anderem, verstrickt in
hautfarbene Knoten wie eine zweite Haut. Sie fallen, steigen, fluten—Wellen wilder Gefühle. Von
Chaos zu Zärtlichkeit, Schmerz zu Freude spiegeln ihre tierischen Körper den inneren Sturm: ein
Wesen, das fühlt, kämpft, wird.

 

3 – and so it is

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm, Tanz: Kenedy Kallas
Musik: Buddha’s Lounge
Assistenz: Enzo Boffa, Yamil Ortiz

Es tut mir leid.
Bitte vergib mir.
Danke.
Ich liebe dich.

 

4 – prelude to OIL OF EVERY PEARL’S UN-INSIDES

Konzept, Kostüme, Licht: Jorge Moro Argote
Research und Choreografie: Jorge Moro Argote in Kollaboration mit den Tänzer:innen
Musik: SOPHIE
Musikalisches Arrangement: Matti Tauru
Tanz: Meilyn Kennedy, Bridget Lee, Milica Mučibabić, Marcos Novais, Yamil Ortiz, Marie Ramet, Vanessa Shield, Luke Watson

Die Luft summt mit einem uralten Puls. Schatten flackern und malen Sprache auf unsichtbare Wände. Der Boden schimmert bei jedem Schritt, Teil einer unendlichen Melodie. Die Welt pulsiert mit leiser Dringlichkeit – Muskeln dehnen sich, Knochen verschieben sich, Atem wird tiefer. Wolken treiben tief, leuchten und verschmelzen mit geladener Luft. Ein goldener Faden zieht, und die Wände lösen sich in Himmel auf. Schwerelos treiben Fragmente deiner selbst wie Blütenblätter. Eine Kälte breitet sich aus – befreiend und doch schneidend –, während sich der Horizont ins Licht auflöst. Du trittst vor, und die Welt klappt nach innen, trägt dich ins Unendliche.

5 – The Willow Tree

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm, Tanz: Masayoshi Katori
Musik: The Animals, Oneohtrix Point Never & Elizabeth Fraser, Maurice Ravel

Als der Weidenbaum noch aufrecht und stark stand und meine Träume größer waren als meine Ängste, fühlte ich mich geliebt und beschützt – und doch war das nicht genug, um zu bleiben. Es war der Abschied vom Feenland.

Ich bereue Dinge, die ich gesagt habe, die ich hätte sagen sollen – und die, die ich besser nie gesagt hätte. In unzähligen schlaflosen Nächten denke ich an das Leben, für das ich mich nicht entschieden habe. Ich sehne mich nach dem sicheren Ort, den ich einst freiwillig verlassen habe – in der Hoffnung, eines Tages selbst einen solchen Ort zu schaffen.

Ich weiß, dass mir eines Tages alles, was ich geliebt habe, für immer genommen wird – und doch nehme ich diesen Weg an. Ich habe gelernt, weiterzuleben, trotz des Lochs in meinem Herzen. Aber immer dann, wenn ich mich ganz auf das konzentriere, was fehlt, beginnt mein Herz erneut zu weinen. Selbst den Schmerz, den ich noch nicht erlebt habe – ich kenne ihn bereits.

Dauer: 13 Min.

6 – Terminerinnerung

Choreografie, Bühne, Licht, Kostüm: Yamil Ortiz
Tanz: Bridget Lee, Mei-Yun Lu, Enzo Boffa, Benjamin Wilson

 

Ich frage mich, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen, wenn man sich in einer äußerst unangenehmen Situation befindet und nicht entkommen kann. In meinem Fall sind die Gedanken, die mir in den Sinn kommen, oft zusammenhangslos oder ohne logische Struktur.