Tanz hören! Tanz fühlen! Tanz erleben!

Mit einem außergewöhnlichen Qualifizierungsprogramm für Audiodeskriptionsautor:innen leistet die Tanzplattform Rhein-Main, ein gemeinsames Projekt des Hessischen Staatsballetts (HSB) und des Künstler:innenhaus Mousonturm, einen Beitrag zum Abbau von Barrieren für blinde und sehbehinderte Menschen und für mehr Teilhabe im Tanz. Das Qualifizierungsprogramm findet seinen Höhepunkt und Abschluss im Rahmen des HSB-Ballettabends „Chronicles“.

Parallel zum Probenprozess entwickeln blinde, sehbehinderte und sehende Autor:innen, die an der Qualifizierung teilnehmen, gemeinsam eine Audiodeskription inklusive einer Tastführung für den mehrteiligen Tanzabend.

Diese Audiodeskription kann das erste Mal von blinden und sehbehinderten Besucher:innen an der Premiere des Tanzabends am 16. Februar um 18 Uhr im Hessischen Staatstheater Wiesbaden genutzt werden.

Mehr Informationen folgen bald.

Auf welchen Ebenen wirkt Tanz?

Als Körperkunst gilt Tanz als eine Ausdrucksform, in der visuelle Aspekte dominieren. Wird Tanz also hauptsächlich bzw. ausschließlich über den Sehsinn wahrgenommen? Wie kann Tanz auch für Menschen zugänglich gemacht werden, die blind oder sehbehindert sind?

Die Tanzplattform Rhein Main, ein gemeinsames Projekt des Hessischen Staatsballetts und des Künstler:innenhaus Mousonturm engagiert sich seit neun Jahren, um Tanz in seinen vielfältigen Ausdrucksweisen im Rhein-Main-Gebiet zu stärken und um Zugänge für Menschen mit diversen körperlichen und sinnlichen Befähigungen zu dieser Kunstform zu schaffen. Der Abbau von Barrieren im Tanz für Menschen mit Behinderung vor, auf und hinter der Bühne ist für das Hessische Staatsballett und seinen Partner Künstler:innenhaus Mousonturm dabei ein wichtiges Anliegen.

Seit gut zwei Jahren bietet die Tanzplattform Rhein-Main unter anderem bei ausgewählten Stückaufführungen am Mousonturm Audiodeskriptionen an. Die sprachliche Beschreibung der Bühnenvorgänge, die eine Aufführung live begleiten, ermöglicht es blinden und sehbehinderten Personen am Tanzstück teilzuhaben. Was bei Film und Fernsehen seit vielen Jahren Standard ist, ist in Tanz und Theater nach wie vor eine Seltenheit.

Auf Initiative der Tanzplattform Rhein-Main wird im Rahmen des Ballettabends „Chronicles“ erstmals eine Audiodeskription für eine Produktion des Hessischen Staatsballetts entwickelt. Die Entwicklung dieser Audiodeskription bildet den Abschluss eines Qualifizierungsprogramms für Audiodeskriptionsautor:innen im Tanz. Geleitet von den blinden Audiodeskriptionsexpert:innen Melanie Hambrecht und Fabian-Lilian Korner wird eine Gruppe aus dem Rhein-Main-Gebiet, bestehend aus neun blinden, sehbehinderten und sehenden Personen, ausgebildet, eigenständig Audiodeskription und begleitende Maßnahmen wie Tastführungen und Audioflyer für Tanzproduktionen zu entwickeln.

Anliegen des Qualifizierungsprogramms ist, die herausragenden Stücke des Hessischen Staatsballetts erstmals für blinde und sehbehinderte Personen zugänglich zu machen. Zudem soll der Nucleus für einen Pool von Audiodeskriptionsautor:innen im Rhein-Main-Gebiet etabliert werden, sodass zukünftig nicht nur am Hessischen Staatsballett oder am Mousonturm, sondern auch an anderen Theatern und bei freien Tanzproduktionen Audiodeskriptionen angeboten werden können. Aktuell scheitert ein solches Angebot nicht nur an der fehlenden finanziellen Ausstattung, sondern auch an dem Mangel qualifizierter Autor:innen.

Die Partner der Tanzplattform Rhein-Main möchten mit dem Qualifizierungsprogramm einen Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention leisten, die 2009 durch die Bundesregierung ratifiziert wurde. Die Behindertenrechtskonvention stellt klar, dass die eigenständige Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen, somit auch in Kunst und Kultur, ein unerlässliches Grundrecht ist.

Die Tanzplattform Rhein-Main setzt mit ihrem Programm dabei wichtige Standards. Es wird von den blinden Expert:innen Fabian-Lilian Korner und Melanie Hambrecht geleitet. Es erfüllt somit eine zentrale Forderung der Behindertenrechtsbewegung, die „Nicht über uns ohne uns“ lautet.

Das Programm macht außerdem die Arbeit von Autor:innen-Teams zum Standard, in denen immer blinde bzw. sehbehinderte Expert:innen mit sehenden Expert:innen gleichberechtigt zusammenarbeiten. Die Kompetenzen, Erfahrungen und Bedarfe der Zielgruppe von Audiodeskriptionen werden somit von Anfang an ins Zentrum gestellt.

Unter dem Stichwort ‚künstlerische Audiodeskription‘ berücksichtigt die Qualifizierung zudem intensiv die Besonderheiten der Kunstform ‚Tanz‘. Sie grenzt sich damit radikal von den vermeintlich neutralen, sehr technischen Beschreibungen ab, die aus Film und Fernsehen bekannt sind. Ausgangsfragen sind vielmehr, wie die verschiedenen sinnlichen Ebenen, die bei einer Tanzaufführung wirken, einbezogen werden könnten oder welche sinnlichen Ebenen jenseits des Visuellen in einer Tanzaufführung erlebbar sind und wie diese vermittelt werden können.

Den Leiter:innen des Qualifizierungsprogramms Fabian Lilian Korner und Melanie Hambrecht ist es wichtig, akustische, olfaktorische und haptische Qualitäten einer Tanzaufführung gleichberechtigt neben die sprachliche Beschreibung der Aufführung zu stellen, wie zum Beispiel der Luftzug, der auf der Haut spürbar wird, wenn ein:e Tanzende:r sich schnell bewegt. Es soll so eine ganzheitliche sinnlich-ästhetische Erfahrung für das blinde und sehbehinderte Publikum geschaffen werden, die gleichwertig zu der visuellen Rezeption des Stücks ist.

Audiodeskription

Die Erstellung der Audiodeskription im Rahmen von „Chronicles“ umfasst folgende Arbeitsschritte:

Phase 1: Im intensiven Austausch mit den Choreograf:innen der Stücke und den beteiligten Tänzer:innen entwickeln die Autor:innen eine eigenständige Sprache, die die Charakteristika der jeweiligen Stücke und der choreografischen Handschriften adäquat beschreiben. Mit welchen Begriffen und Adjektiven kann die besondere Bewegungsqualität einer Choreografie erfasst werden? Welche sinnlichen Ebenen können neben der Versprachlichung der Bühnenvorgänger in die Audiodeskription einfließen?

Phase 2: Parallel zu den Proben von „Chronicles“ entwickeln die Audiodeskriptionsteams ein Skript, das als Grundlage für die zukünftige Audiodeskription dienen wird. Ebenso wie in Phase 1 ist auch in dieser Phase der Austausch und das unentwegte Feedback zwischen den blinden bzw. sehbehinderten Autor:innen und ihren sehenden Kolleg:innen zentral.

Phase 3: Umsetzung der Audiodeskription während der Aufführung. Über Empfänger mit Kopfhörern können die Nutzer:innen die Audiodeskription empfangen. Das Skript dient als Orientierung für die Sprecher:innen, die auch als Autor:innen an seiner Erstellung beteiligt waren. Es werden Live-Aspekte der jeweiligen Aufführung berücksichtigt, wie das Tempo, die Intensität ebenso wie die Reaktionen des Publikums. Der Aufführung geht eine sogenannte Tastführung voraus, in der Regel eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. Sie ermöglicht den Audiodeskriptionsnutzer:innen zentrale Elemente der Aufführung vor ihrem Beginn zu ertasten und den Bühnenraum abzugehen, umso während der Aufführung eine bessere Orientierung zu haben.

Weitere Informationen

Die Tanzplattform Rhein-Main, ein Projekt von Künstler:innenhaus Mousonturm und Hessischem Staatsballett, wird ermöglicht durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und ist gefördert vom Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur und der Stiftungsallianz [Aventis Foundation, Crespo Foundation, Hans Erich und Marie Elfriede Dotter-Stiftung, Dr. Marschner Stiftung, ODDO BHF Stiftung, Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main]