Stellungnahme

Wie stehen die Leitungen des Hessischen Staatsballetts und der Staatstheater Darmstadt und Wiesbaden aus Anlass der Premiere von Ohad Naharins „Last Work“ in Darmstadt zu den Vorwürfen von Wiebke Hüster in der FAZ vom 7. Oktober 2023? 

In seinen Choreografien feiert Ohad Naharin mit Tänzerinnen und Tänzern eine schwindelerregende Vielfalt von Gefühlen und Gedanken. Wiebke Hüster schrieb zu seinem 70. Geburtstag 2022: „Dem Tanz Naharins zuzuschauen, ist wie in seinen Bewusstseinsstrom einzutauchen, in dem Fragmente unseres kollektiven Bewegungsgedächtnisses so neu phrasiert und aneinandergefügt sind, dass wir uns wiedererkennen in diesen Tänzen. Plötzlich macht es Sinn, dass wir so zerrissen sind. Dass wir eine Gemeinschaft bilden wollen und ohne Gemeinschaft nicht leben können, dass diese aber auseinanderzubrechen droht.“Niemand, der mit Herz und Hirn ein Tanzstück von Ohad Naharin erlebt, kann ernsthaft glauben, irgendetwas daran könne als Unterstützung von Russlands gegenwärtigem Regime verstanden werden. Wir sind nicht naiv: Natürlich kann ein Regime die Namen großer Künstler*innen missbrauchen. Aber wir glauben auch an jene faszinierende, zivilisatorische Kraft der Schönheit der Kunst, die Wiebke Hüster 2022 bei Ohad Naharin so anschaulich beschrieben hat. Jede einzelne Aufführung einer Choreografie von Ohad Naharin in Russland widerspricht den Werten von Putin und wird von jenen verstanden, die auch in Russland für Menschenrechte und Vielfalt stehen. Sollen Menschen in Russland keine Tanzstücke sehen dürfen, die die Vielfalt, die Humanität, die Fragilität des Menschen in Kunst verdichten, weil ihr Regime, ihr Land einen entsetzlichen, verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt? Greifen wir als nächstes Schriftsteller*innen an, die Übersetzung und Verkauf ihrer Bücher in Russland nicht beenden?

Wir haben keinen Anlaß an der moralischen Integrität des großen Künstlers Ohad Naharin zu zweifeln. Sollen wir jetzt Künstler danach engagieren, wie viel moralischen Gratismut sie durch symbolische Aktionen bewiesen haben? Oder eher Künstler, die ihr ganzes Leben die Zusammenarbeit mit jenen gesucht haben, die für Menschenrechte und gegen Totalitarismus und Gewalt stehen und deren Kunst davon kündet? 

Die Frage, ob ein westlicher Choreograf seine Aufführungsrechte für Russland verlängert oder kündigt, lässt sich sicher differenziert diskutieren. Viele Künstler*innen, die das entscheiden müssen, machen es sich nicht einfach. Aber macht es irgendetwas besser, nun aus sichererer Entfernung diese Künstler*innen moralisch zu beurteilen? Oder dient der Wettbewerb in moralischer Selbstgerechtigkeit nur dazu, sich selbst besser zu fühlen? Sollten wir nicht besser über Realpolitik diskutieren und darüber schreiben, was wirklich gegen diesen Krieg helfen würde: alles zu tun, um weniger Energie aus Russland zu kaufen. Die immensen Milliarden-Zahlungen für unsere Energie stärken das Regime und den Krieg, nicht Aufführungen von Ohad Naharins Choreografien in Russland.

Heute sind unsere Gedanken und unsere Solidarität bei den Menschen in Israel, bei den Verwandten von Künstler*innen und Mitarbeiter*innen unseres Theaters, bei der Batsheva Dance Company und Ohad Naharin. Die Premiere von „Last Work“ hat erleben lassen, wie viel von dieser Welt Ohad Naharin als hellsichtiger Künstler in seine Kunst aufgesogen hat und warum wir für das Hessische Staatsballett Ohad Naharin und „Last Work“ eingeladen haben. Wir sind froh, dass das Hessische Staatsballett „Last Work“ tanzen darf. 

Warum hält das Hessische Staatsballett daran fest, eine Choreografie von Marco Goecke aufzuführen?

Selbstverständlich verurteilen das Hessische Staatsballett und die Staatstheater Darmstadt und Wiesbaden den tätlichen Angriff von Marco Goecke auf die Journalistin Wiebke Hüster. Wir verurteilen dies auch als Angriff auf die Pressefreiheit, die als ein hohes Gut zu respektieren ist. Wir finden richtig, dass Marco Goecke dafür rechtlich und beruflich bestraft wurde und wird. Wir finden richtig, dass er die Verantwortungsposition als Ballettdirektor in Hannover aufgeben musste. Dass Menschen bereuen, sich wandeln und bessern können, ist zentral für unser Rechtssystem und unser Menschenbild. Dafür soll eine Strafe angemessen sein. Das Ziel von Strafe ist daher nicht Rache oder Bestrafung, sondern Erkenntnis, Resozialisierung und Besserung. Das halten wir für eine wesentliche zivilisatorische Errungenschaft. Von dieser Errungenschaft und von der menschlichen Fähigkeit zur Verwandlung handeln viele große Kunstwerke, die wir auf die Bühne bringen. Hinter der Bühne zugleich Künstler*innen immer weiter abzustrafen, entspricht nicht unseren Werten. 

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